Prof. Dr. med. W. Kindermann: Medizinische Betreuung der Fußball­national­mannschaft

Märchen aus der Sportmedizin

Prof. Dr. med. W. Kindermann, Saarbrücken in Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 6 (2004) 161-162, „Standards der Sportmedizin: Anaerobe Schwelle“: „Definition: Die anaerobe Schwelle liegt im Mittel bei 4 mmol/l Laktat (Heck et. al. 1985) bei Ausdauertrainierten aber meist niedriger.“

Institut für Sportdiagnostik: Die anaerobe Schwelle (aerob-anaerobe Schwelle, maximales Laktat-steady-state (maxlass) Leistung bei 4 mmol/l Laktat) liegt beim Ausdauertrainierten nicht niedriger als beim Ausdaueruntrainierten, sonst wären die zugrundeliegenden theoretischen Zusammenhänge und experimentellen Begründungen zur anaeroben Schwelle falsch und grundsätzlich nicht auf jeden Menschen übertragbar. Die theoretische Begründung der „Laktatschwelle“ mit Hilfe des Energiestoffwechselmodels von Mader unter Einbezug experimenteller Belege wurde eingiebig in der Habilitationsschrift von Heck dargestellt: Wissenschaftliche Schriftenreihe des Deutschen Sportbundes; Herausgeber: O. Gruppe, K. Heinemann, H. Lenk, F. Lotz, H. Weicker: Hermann Heck: Laktat in der Leistungsdiagnostik, Hofmann Schorndorf, Bd. 22, 1990.

Kindermann: „Gute Marathonläufer absolvieren ihre Rennen im Bereich der anaeroben Schwelle. Deren Laufzeiten können deshalb über die Schwellenleistungsfähigkeit prognostiziert werden. Marathonläufer regionaler Klasse (ca. 3:00 h) laufen mit ca. 95 % der Geschwindigkeit der anaeroben Schwelle.“

Institut für Sportdiagnostik: Im Marathonlauf kann deshalb keine Laufgeschwindigkeit entsprechend der anaeroben Schwelle oder bei 95 % durchgehalten werden, weil hier schlichtweg ein zu hoher Kohlenhydratumsatz stattfindet. In Ruhe kann von einer Glykogenkonzentration von ca. 98 mmol/l Gl. E./kg Muskelgewicht ausgegangen werden (Costill et al. 1973, Essen 1977, Jacobs 1981, Ivy et al. 1983). Ein gering ausdauertrainierter Sportler (A), der an der anaeroben Schwelle nur mit 50 % an der max. Sauerstoffaufnahme belastet ist, hat eine niedrige Glykogenutilisation von 0,8 mmol/l Gl. E./kg Muskelfeuchtgewicht pro Minute, die für eine Belastungsdauer von 122,5 min bzw. bei einer Laufgeschwindigkeit von 3,7 m/s bis 27,2 km reichen würde.

Der aerob besser trainierte Athlet (B), der an der anaeroben Schwelle wesentlich höher, z.B. mit 75 % an der VO2 max., belastet ist, hat auf das gleiche Laktat bezogen bereits eine Glykogenutilisation von 1,4 mmol/l Gl. E./kg Muskelfeuchtgewicht pro Minute, die nur für eine Belastungsdauer von 70 min bzw. 17,6 km bei einer Laufgeschwindigkeit von 4,2 m/s reicht. Athlet B kann also an der anaeroben Schwelle unter nahezu 100 prozentiger Verwendung von Kohlenhydraten bestenfalls einen Halbmarathon von 21 km bestreiten. Im Marathonlauf muss also eine wesentlich höhere Fettutilisation stattfinden, die nur bei geringeren Laufgeschwindigkeiten mit entsprechend geringeren Laktatkonzentrationen <2 mmol/l gegeben ist.

Literatur: Föhrenbach, R. 1986 bzw.: Mader, A.: Computersimulation des menschlichen Energiestoffwechsels im Muskel in: Gesund, vital, schlank: Pape, D., R. Schwarz, H. Gillessen; Deutscher Ärzte-Verlag 2001.

Kindermann: „Intensives Ausdauertraining und Tempodauerläufe finden zwischen 90-100 % der anaeroben Schwelle statt. Im Leistungssport erfolgt die Energiebereitstellung bei intensivem Dauerlauftraining bereits mit merklich anaeroben Anteilen (Laktat im Mittel zwischen 3-5 mmol/l).“

Institut für Sportdiagnostik: Dass ein intensives Dauerlauftraining (ebenso wie ein Marathonwettkampf) auf keinen Fall bei 90-100 % bzw. 3-5 mmol/l Laktat stattfinden darf, wurde schon 1979/80 von M. Noack in einer Längsschnittstudie über 10,5 Monate an 3 Mittelstreckenläuferinnen belegt. (Heck, H., M. Noack, B. Büngener, N. Kunze, W. Hollmann: Veränderungen der Ausdauerleistungsfähigkeit in Abhängigkeit von der Trainingsintensität bei Nachwuchsmittelstrecklerinnen, in: Die trainingsphysiologische Bedeutung der anaeroben Kapazität, Kongress, St. Johann, 1985; Herausgeber: Bachl, N., P. Baumgartl, G. Huber und J. Keul, 1987 bei Brüder Hollinek, Wien). Im Untersuchungszeitraum wurden bei jeder Sportlerin 14 Stufentests auf dem Laufband durchgeführt um das Training immer aktuell und laktatkontrolliert vorgegeben zu können. Während in den ersten 7 Monaten ein Verhältnis von Dauerläufen bei 2 mmol/l zu Dauerläufen bei 4 mmol/l von 20:60 vorgeben wurde, drehte Noack in den verbleibenden 3 Monaten dieses Verhältnis auf 50:30 um. Während die anaerobe Schwelle in den ersten 7 Monaten bei der höchst intensiven Vorgabe persistierte (Mittelwert: 4,16 m/s) ergaben sich schon nach 4 Wochen Dauerlauftraining um 2 mmol/l signifikante aerobe Zunahmen und jeweils weitere aerobe Verbesserungen bei jeder der 3-5 Ausdauertests bis zu einem Mittelwert von 4,72 m/s am Ende der 3-monatigen milden und vernünftigen Belastungsvorgabe.

In vielen eigenen retrospektiven Studien mit Ergebnissen aus Trainingsanalysen und Leistungstests an Mittelstreckenläuferinnen und -läufern ließ sich dieser Zusammenhang immer wieder bestätigen: Intensive Dauerläufe und Tempodauerläufe mit Laktatkonzentrationen von 3-5 mmol/l sind kontraproduktiv für aerobe Leistungsentwicklungen. Lediglich 1-3-km-Tempoläufe (1 × pro Woche) mit dieser metabolischen Beanspruchung können im Verbund mit milden Ausdauerläufen im Langstrecken-/Marathonbereich positive Anpassungen auslösen (Diss. Föhrenbach, Leistungsdiagnostik, Trainingsanalyse und Trainingssteuerung bei Läuferinnen und Läufern verschiedener Laufdisziplinen, Hartung-Gorre, Konstanz, 1986).

Könnte es zutreffen, dass die von Herrn Kindermann betreuten Fußball-Nationalspieler in der Vorbereitung der EM mit diesen zu intensiven Belastungsvorschlägen im Dauerlauftraining konfrontiert wurden?

Kindermann: „Das Maximum der Fettverbrennung - absolut betrachtet - liegt bei 55-72 % VO2 max. […] Dies entspricht dem Bereich des aerob-anaeroben Übergangs (2-4 Laktat). Erst oberhalb der anaeroben Schwelle nimmt der Anteil der Fettverbrennung an der Gesamtenergiebereitstellung deutlich ab. Mithin führt ein Training von ca. 90 % der anaeroben Schwelle auch zu einer maximalen Fettverbrennung.“

Institut für Sportdiagnostik: Aus den oben dargestellten Zusammenhängen ergaben sich bereits einige Anhaltspunkte, die gegen die Annahme sprechen, dass das Maximum der Fettverbrennung bei 90 % der anaeroben Schwelle liegt. Aus den Simulationsuntersuchungen von Mader geht hervor, dass sich das Maximum der Fettverbrennung niedrigeren Sauerstoffaufnahmewerten bzw. ≤ 1,5 mmol/l Laktat entsprechend ca. 65-70 % zur anaeroben Schwelle befindet. Bei 90 % überwiegt bereits der Kohlenhydratstoffwechsel, bei ≥ 4 mmol/l Laktat ist die Fettverbrennung praktisch auf Null zurückgedrängt. (Mader, A.: Computersimulation des menschlichen Energiestoffwechsels im Muskel in: Gesund, vital, schlank: Pape, D., R. Schwarz, H. Gillessen; Deutscher Ärzte-Verlag, 2001).